Gerhard Wohlgemuth (1920-2001)

Im Jubiläumsjahr 2020 – es wäre Gerhard Wohlgemuths 100. Geburtstag geworden – zeigte sich so mancher Verein mit mitteldeutschem Wirkungsradius gewappnet für eine Ehrung des „wohl […] wichtigsten Komponisten aus Sachsen-Anhalt in der Zeit der DDR“ (Marggraf 2009, S. 17). So hatte der Verein „Straße der Musik“ einige Aufführungen mit Werken Wohlgemuths schon im Jahresprogrammheft abgedruckt; dem Musikkulturverein Mitteldeutschland schien zudem ein ausführlicheres Komponistenporträt so wichtig wie überfällig, liegen die letzten öffentlichen Würdigungen Wohlgemuths doch schon 20 Jahre zurück (Konzert zum 80. Geburtstag am 17.3.2000 und Gedenkkonzert am 12.11.2001, jeweils im Händelhaus Halle). Der quasi erzwungene Entfall dieser Vorhaben 2020 ist ein Anlaß mehr, an dieser Stelle zumindest einige Indizien für Wohlgemuths unabgegoltene Bedeutung als einer der wichtigsten Avantgardisten im mitteldeutschen Raum der 50er und 60er Jahre zusammenzutragen. Ein Auftakt, so bleibt zu hoffen, für nachholende Würdigung bzw. überfällige Wiederentdeckung.

Gerhard Wohlgemuth, am 16. März 1920 in Frankfurt am Main geboren, wuchs in Bremen und an der pommerschen Ostseeküste auf. Nach dem Abitur nahm er zunächst ein Medizinstudium in Greifswald auf, das er bereits ein Jahr später mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unterbrechen musste. Er ist Soldat in Polen und der Sowjetunion, bis ihn 1944 eine Tuberkuloseerkrankung zur Beendigung des Militärdienstes zwingt und die Fortsetzung seines Medizinstudiums in Halle (Saale) ermöglicht. In diese Zeit fallen seine ersten Kompositionen – zunächst für Klavier solo (Sonatinen für Klavier, 2. Klaviersonate), in denen nach Karl Laux „eine geistvoll-burleske Haltung zum Ausdruck kommt“ (Laux 1963, S. 246).
Dem endgültigen Abbruch des Medizinstudiums folgt eine engagierte musikalische Ausbildung, teils autodidaktisch, teils durch Privatunterricht (u. a. bei Fritz Reuter). Ab 1949 arbeitet Wohlgemuth als Lektor, zunächst beim Mitteldeutschen Verlag in Halle, ab 1956 beim Friedrich Hofmeister Musikverlag in Leipzig. Ab 1956 ist er freischaffender Komponist und Dozent am Institut für Musikwissenschaft der Halleschen Universität, an der er bist 1972 wirkt. Er wird an die Ostberliner Akademie der Künste berufen, wo er er eine Meisterklasse für Komposition betreute (sein bekanntester Schüler wurde Thomas Müller).
Wohlgemuths musikalisch-theoretisches Engagement war umfangreich. Er zählt zu den Mitbegründern des Komponistenverbandes der DDR, ab 1952 war er Vorstandsmitglied; von 1969 bis 1991 gehörte er der Ost-Berliner Akademie der Künste an. Intellektuell scharfsichtig und stets auf der Höhe der musikästhetischen Debatten, galt er vielen als streitbarer Zeitgenosse. In den Diskussionen mit Komponistenkollegen erwies er sich als Verfechter des subjektiven Kunstausdrucks, ästhetische Dogmen waren ihm fremd, gegen die Instrumentalisierung der Musik durch ideologische Zwecke erhob er Einspruch – ein Fingerzeig darauf, dass selbst seine scheinbar affirmativen Auftragswerke im Licht parodistischer Deutungsoptionen interpretiert werden sollten.
An Auszeichnungen erhielt der Hallesche Komponist unter anderem den Kunstpreis der Stadt Halle (1955), den Händelpreis (1962) und – für sein Violinkonzert – den Kunstpreis der DDR (1964).
Gerhard Wohlgemuth starb am 26. Oktober 2001 in Halle.

Wohlgemuths kompositorisches Schaffen ist breit aufgestellt, eine übermäßig dominierende Gattung gibt es nicht. Von avancierten Instrumentalwerken und Kammermusik über Orchesterwerke und Konzerte bis hin zu Volksliedbearbeitungen und Filmmusiken reicht das Spektrum. Auf die zeitgenössisch oft eingeforderte Vokalsinfonik und Chorwerke hat Wohlgemuth im Wesentlichen verzichtet (Stöck 2008, S. 142). „Die Tendenz seines Schaffens verläuft gleichsam zweispurig, einmal zur unkomplizierten Sprache des Laienmusizierens hin, zum anderen zur rhythmischen, melodischen, harmonischen und strukturellen Komplikation“ (F. K. Prieberg 1968, S. 238). Seinen Schaffenszenit erreichte der Komponist bereits in den 1960er Jahren, ein eigentliches Spätwerk gibt es aufgrund seines (teils gesundheitsbedingt) sukzessive verringerten kompositorischen Schaffens nicht. Wohlgemuths Nachlass liegt verstreut. Ein Werküberblick kann über den Katalog der Stiftung Händel-Haus Halle erschlossen werden.

Seinen Status eines enfant terrible der ostdeutschen Kompositionsszene erwarb sich Wohlgemuth durch sein hartnäckiges Insistieren auf der Freiheit künstlerischen Ausdrucks und Experimentierens. Gemeinsam mit dem Dessauer Heinz Röttger bildete Wohlgemuth in den aufgeheizten Selbstfindungsdebatten ostdeutscher Komponisten in den fünfziger und Anfang sechziger Jahren so etwas wie die Speerspitze des kompromisslosen Avantgardismus, also unter Einschluss der umstrittenen Zwölftontechnik. Für Irritationen bei Publikum wie Kritik sorgte etwa sein 1960 komponiertes Erstes Streichquartett, griff Wohlgemuth hier doch offenkundig auf die Atonalität bzw. das Kompositionsverfahren der Schönberg-Schule zurück. Noch fast 20 Jahre später hielt das einschlägige Kompendium der DDR-Komponisten hierzu fest:

„Mit diesem kammermusikalisch sauber gearbeiteten, ernsten Werk, das nach ausgiebigen, verzweigten Vorarbeiten in der Hindemith- und Janáček-Nachfolge mit folkloristischem Akzent zum ersten Mal die Erfahrungen aus dem Studium der Zwölftontechnik auswertete, gab Wohlgemuth Anlaß zu heftiger Kritik und Argumenten eines Für und Wider um die Möglichkeit sogenannter Umfunktionierung spätbürgerlicher Kunstmittel. Das Stück selbst weist interessante satztechnische und emotionale Qualitäten auf, besticht durch konsequente, feinnervige, echt dialogisch geführte motivische Arbeit und eine durchaus persönliche expressive Klanggestaltung.“ (Musikgeschichte 1979, S. 164f.)

Dass der Hallesche Komponist freilich auch anders konnte, bewies er mit seinem Violinkonzert, der ungarischen Geigerin Mária Vermes gewidmet und 1963 in Halle uraufgeführt. „Ich habe versucht, positive Lebenshaltungen, optimistische Empfindungen, Emotionen und Gedanken musikalisch auszudrücken. Ein Schuß Frechheit ist auch dabei“, bekannte Wohlgemuth zu seiner neuen Instrumentalmusik, deren „gesunde Daseinsbejahung“ die zeitgenössische Kritik begeisterte: „ein Meisterwerk der zeitgenössischen Musik“ (Stöck 2008, S. 156f.). Solche und ähnliche Äußerungen spiegeln exemplarisch die Spannungsverhältnisse ostdeutscher Komponisten in einer Zeit wider, in der die gesellschaftliche Idee des Sozialismus ihr ästhetisches Pendant in der Forderung nach volksverbundener Kunst und sozialistischem Realismus hatte.
Auch Wohlgemuth, eigenwilliger Musiker wie Intellektueller, entwickelte seine musikalische Sprache inmitten der zeittypischen Spannungen aus künstlerisch-individuellem Anspruch und sozialer Norm. Doch wusste er bei allen Zugeständnissen ästhetischer oder politischer Art seinen grundlegenden Standpunkt selbstbewusst zu verteidigen. Auch als Auftragskomponist übte er Kritik am musikästhetischen Systemzwang, verteidigte er stets die künstlerische Autonomie. Gegen die Attackierung Christa Wolfs etwa auf einem Plenum legte er Widerspruch ein; und in seiner späten Funktion als Lektor beim VEB Edition Peters gab er als Inbegriff von „Schönheit“ die „absolute Redlichkeit oder Wahrhaftigkeit“ zu Protokoll (Stöck 2008, S. 165).



Musiktage des Verbands Deutscher Komponisten 1958 in Weimar: Ottmar Gerster, Gerhard Wohlgemuth, Nathan Notowicz, Paul Kurzbach

Gehörte Wohlgemuth in den sechziger Jahren zu den meistgespielten Komponisten nicht nur aus dem Raum Halle-Magdeburg, sondern aus der DDR – nach Günter Kochan, Siegfried Kurz, Hanns Eisler, Johannes Paul Thilman, Fritz Geißler – ist seine Musik im heutigen Konzertbetrieb weitgehend ausgeblendet. Zuletzt hatte der Musikkulturverein (2019) Instrumentalstücke aus dem Frühwerk aufgeführt. Es bleibt ein Ärgernis, dass Wohlgemuths 3. Sinfonie (1983), in der er ein letztes Mal auf sinfonischem Gebiet die Synthese aus Avantgarde und Traditionsbezug erprobte, bis heute nicht ihre Uraufführung erlebt hat. Die Wiederentdeckung und umfängliche Würdigung von Wohlgemuths Werk als beispielhafte künstlerische Avantgarde der zeitgenössischen Musik im geteilten Deutschland bleibt eine kulturelle Aufgabe.

Aufnahmen von Wohlgemuths Werken gehören bis heute zu den Raritäten. Zu Lebzeiten des Komponisten erschienen auf Langspielplatte das Konzert für Violine und Orchester (1963) in der ETERNA-Reihe „unsere neue musik“ (ein Verläufer der anschließenden Sonderreihe des DDR-Labels für zeitgenössische Musik: NOVA). 1973 folgte die NOVA-LP mit dem Streichquartett (1960) in der Einspielung des Erben-Quartetts. Wohlgemuths Violinkonzert (1963) in der Einspielung unter Herbert Kegel kam 1964 ebenfalls auf NOVA (mono) heraus. Seine 1971 komponierte Kantate Genossen, der Sieg ist errungen erschien 1973 ebenfalls auf NOVA (in der Einstudierung des Rundfunkjugendchors RJC Wernigerode unter Friedrich Krell). Posthum brachte die Reihe „Komponisten aus Sachsen-Anhalt“ 2009 das Dritte Streichquartett von 1976/77 auf CD heraus.
Beispielhaft empfohlen für das Kennenlernen des Filmkomponisten sei allen Freunden des klassischen DEFA-Films Wohlgemuths einfühlsame und dramaturgisch sensible Filmmusik zu Rotkäppchen (1962).

Werkauswahl Gerhard Wohlgemuth
Kammermusik
Sextett für Streichinstrumente und Klavier (1955)
„Supremalitapega“ für Bläserquintett (1992)
Streichquartett Nr. 1 (1960)
Streichquartett Nr. 2 „Dölauer Quartett“ (1968)
Streichquartett Nr. 3 (1976/77)
Violine
Violinsonate (1955)
Sonate für Violine und Klavier (1955)
Akkordeon
Auf weißen Tasten. Leichte Stücke für Akkordeon (um 1962)
Klavier
Acht kleine Stücke für Klavier (1944)
Erste Sonatine für Klavier (1944)
Klaviersonate Nr. 2 B-Dur (1946)
3 Sonatinen (1944, 1944, 1945)
12 Lieder für hohe Stimme und Klavier (1946)
Klaviersuite (1947)
Inventionen (1949)
Variationen über ein Thema von G. F. Händel für zwei Klaviere (1969)
Orchestermusik
Sinfonia breve (1952)
Sinfonie Nr. 1 (1953)
Suite für Orchester in fünf Sätzen (1953)
Sinfonietta (1956)
Sinfonie Nr. 2 (1958, rev. 1962)
Händel-Metamorphosen. Variationen über eine Sarabande von Händel (1958)
Telemann-Variationen (1965)
„L’ Allegria“, Divertimento (1965)
Sinfonische Musik (1970)
Sinfonie Nr. 3 (1983)
Konzerte
Concertino für Klavier und Orchester (1948)
Concertino für Oboe und Streichorchester (1957)
Violinkonzert (1963)
Concerto piccolo für Klavier und kleines Orchester (um 1985)
Divertimento für Klavier und Orchester (um 1986)
Vokalmusik – Chorsinfonik
Jahre der Wandlung. Hallesches Oratorium für Sprecher, Soli, Knabenchor und Orchester auf einen Text von Friedrich Döppe (1961)
Genossen, der Sieg ist errungen. Kantate für Soli, Chor und Orchester nach Worten von Nils Werner (1971)
Wie ist der arm, der nicht zu träumen weiß. Kantate für Soli, Chor und Orchester (1974)
Bühnenwerke
Till. Oper in vier Bildern (1952). UA 1956 in Halle
Provençalisches Liebeslied. Ballett (1954)
Filmmusiken
Der kleine Kuno (1958)
Rotkäppchen (1962)
Die Abenteuer des Werner Holt (1964)
Die Toten bleiben jung (1968)
Große Reise der Agathe Schweigert (1971/72)
Mann gegen Mann (1976)
Lieder (Bearbeitungen)
Lieder zur Weihnachtszeit. Zum Singen oder Spielen für zwei Blockflöten gleicher Stimmung oder im Oktavabstand oder andere Melodieinstrumente (1955)
Leise rieselt der Schnee. Zum Singen und Spielen auf dem Klavier (1955)
Heimat, dich werden wir hüten. Alte und neue Arbeiterkampflieder; Lieder vom Kampf um den Frieden und vom Aufbau des Sozialismus. Für Akkordeon gesetzt von Hans Luck und Gerhard Wohlgemuth (1959)

Literatur:
Egon Rubisch: Gerhard Wohlgemuth. In: Aus dem Leben und Schaffen unserer Komponisten. Heft 4. Berlin 1972, S. 104-108.
Gilbert Stöck: Der Komponist Gerhard Wohlgemuth im Kontext des halleschen Musiklebens zwischen 1950 und 1980. In: W. Ruf (Hg.): Der Klang der Stadt. Halle 2009, S. 226-251.
Gilbert Stöck: Neue Musik in den Bezirken Halle und Magdeburg zur Zeit der DDR. Kompositionen – Politik – Institutionen. Leipzig 2008.

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