In Halle gab es pünktlich im Vorfeld des Komponistengeburtstags am 16. September 2021 eine Feierstunde als Komponistenporträt mit Familienangehörigen Fritz Geißlers. Der Mitschnitt der Feierstunde ist hier bereitgestellt.
Zusammen mit der in Dresden beheimateten „Fritz Geißler-Gesellschaft“ bündelte der Musikkulturverein Mitteldeutschland im Jubiläumsjahr 2021 Kapazitäten für eine gemeinsame Würdigung des großen Komponisten – getreu dem Motto Modernes freisetzen – Vergessenes erschließen!
Doch damit kein Ende der Würdigung! In der Dresdener SLUB ist im Frühjahr 2022 eine Aufführung von Streichquartetten Geißlers geplant (Details folgen).
Verbunden mit diesen Würdigungen und Nach-Wirkungen ist die Hoffnung, dass sich hoffentlich viele, die heute mit Fritz Geißler noch wenig verbinden, zur Neu- und Wiederentdeckung großer, universeller Kompositionskunst eingeladen fühlen.
»Bei dem Neuen, das musikalische Gestalt annehmen soll, [geht es] niemals in erster Linie um unerhörte oder noch nicht gehörte Tonverbindungen und Klangeffekte […], sondern um neue Problemstellungen und neue Lösungen, die, im Material der Musik, Modell sein können für die Lösung dialektischer Widersprüche, in ihrer Abstraktheit anwendbar auf möglichst viele Bereiche menschlicher Tätigkeit und menschlicher Selbstverwirklichung. […]
Ein produktives Verhältnis zur Musik als Kunst wird der Hörer nur finden können, wenn er durch die äußere Klangfassade, die ihm bei neuen Werken ungewohnt sein kann, zu den wirklichen Problemen, Widersprüchen und Lösungen vorstößt und diese in sich selbst reproduziert. Nur wenn der Hörer willens und in der Lage ist, sich dieser schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk zu stellen, kann Kunst überhaupt wirksam werden.«
Fritz Geißler: Überlegungen zu Wesen und Aktualität der Gattung Sinfonie, Interviewbeitrag 15.9.1970, in: Fritz Geißler: Ziele. Wege. Komponistenporträt von E. Kneipel. Berlin 1987, S. 153.
„Haben Sie schon mal was von Fritz Geißler gehört?“ „Fritz Geißler … wer ist das?“ „Na wir meinten eher eine seiner Opern oder Sinfonien…“ „Ach so, nein, also weder noch.“ Vermutlich würde so oder ähnlich die Antwort ausfallen, stellte man heute die Frage nach Fritz Geißler in den Raum, der als einer der bedeutendsten Tonschöpfer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Mitte Deutschlands gelten darf – und muss.
Fritz Geißler wurde am 16. September 1921 im sächsischen Wurzen geboren, er starb am 11. Januar 1984 in Bad Saarow. Berufung wie berufliches Wirken erfüllten sich für Geißler in einer drei Jahrzehnte währenden Entwicklung als freischaffender Komponist ebenso wie als Dozent und Professor für Komposition an den Musikhochschulen in Leipzig und Dresden.
Nicht weniger als 140 Werke in einer Vielzahl musikalischer Gattungen umfasst sein kompositorischer Nachlass, darunter: ganze elf (!) Sinfonien, vielzählige Instrumentalkonzerte, Kammermusik, Ballette, Kantaten, Oratorien und nicht zu vergessen vier abendfüllende Opern (Der Zerbrochene Krug, Der Schatten, Der verrückte Jourdain und Das Chagrinleder). Renommierte Klangkörper wie die Staatskapelle Dresden oder das Gewandhausorchester Leipzig, bedeutende Dirigenten wie Kurt Masur, Herbert Kegel und Václav Neumann interpretierten seine Sinfonien und vokalsinfonischen Werke; Häuser und Bühnen in Ost- wie Westdeutschland führten seine Werke in reicher Zahl auf.
Weil Geißler seinen ästhetischen Avantgardismus lange Zeit radikal verstand, etwa mit seiner 2. Sinfonie (1963) die erste ostdeutsche Sinfonie unter Anverwandlung des Serialismus (der zu dieser Zeit vielumstrittenen Zwölftontechnik der Schönberg-Schule) schuf, war sein in der DDR hochgeschätztes sinfonisches Schaffen durchaus heftig diskutiert. Als Neuerer der Sinfonie als einer Kunstgattung, in der Individuelles und Gesellschaftliches zur ernsten modellhaften Aussprache kommen sollten, verstand er sich, das sinfonische Kunstwerk galt ihm nach eigenen Worten als „Modell für das mögliche Maß menschlicher Selbstverwirklichung in einer bestimmten Geschichtsepoche„.
Geißler fühlte sich als suchender Tonschöpfer dem avantgardistischen Ausdruck seiner Zeit ebenso wie dem Gedanken verpflichtet, „die Kluft zwischen zeitgenössischer Musik und Publikum zu überbrücken“ (1979). Dieser ihm bewusste Spannungsgegensatz führte ihn im späteren Werk zum – bei Zeitgenossen wie späteren Kritikern nicht unumstrittenen – Versuch einer ’neuen Einfachheit‘. Am Ende ging es um Vereinigung: „Ich sehe die Möglichkeit einer fruchtbaren Weiterentwicklung der musikalischen Sprache weder in einem epigonenhaften Wiederholen überlieferter Ausdrucks- und Gestaltungsmittel noch in einem schroffen Bruch mit der Tradition, sondern in einer echten Synthese von Überliefertem und Neuem.“ (1979)
Verlieren sich mit dem Ende des sozialistischen deutschen Staats wirkungsgeschichtlich weitgehend die Spuren, bleibt eine Frage unabweisbar: Wie kann ein solch vielgestaltiges, ebenso modernes wie uneingeholt zeitloses, schon im Umfang monumentales – wenn man so will unübersehbares – Oeuvre im heutigen Konzert- und Kulturbetrieb so gut wie unbekannt, ja vergessen sein?
Für eine erste Annäherung an Fritz Geißlers eindrucksvolles kompositorisches Werk, dem die zeitgenössische Kritik zurecht das „Streben nach dichter und expressiver sowie sinnenkräftiger und logisch gegliederter Klangsprache“ bescheinigte [Brockhaus/Niemann: Musikgeschichte der DDR, 1979, S. 277], seien die Werkübersicht und die Diskographie Geißlers der Geißler-Gesellschaft empfohlen.
Hörbeispiele bedeutender historischer Aufnahmen zwischen Früh- und Spätwerk (Sinfonien 1-3, 5-7, 11, Chorsinfonik und Instrumentalstücke) bietet der Videokanal youtube ebenso wie das eine oder andere Kleinod, etwa die frühen Sieben Klavierstücke für Charlotte (1956). Wohl besonders geeignet für den prägnanten Einstieg in die Kompositionswelt Geißlers ist neben der 5. Sinfonie, 1969 im Auftrag der Dresdner Philharmonie komponiert, 1970 mit dem Nationalpreis der DDR gewürdigt, die Italienische Lustspielouvertüre nach Rossini, ein „spritziges, quicklebendiges und übermütiges Werk, eine virtuose Aufgabe fürs Orchester, ein Spaß für den Hörer.“ (H. Schaefer).
Für Schallplattenliebhaber hält die NOVA-Sammlung, das einschlägige Label in der DDR für die ernste Musik des Landes, insgesamt 11 Titel mit Werken Geißlers bereit. Darunter: Historische Aufnahmen der 2. und 3., 5.-7. Sinfonie, Der zerbrochene Krug, Schöpfer Mensch, Die Flamme von Mansfeld, Kammersinfonie, Sonate für Horn und Klavier, Konzertante Fantasie für Kammerorchester. Auf ETERNA erschien zudem (Mono) die zeitgenössisch vielgespielte Italienische Lustspielouvertüre nach Rossini (1956).
Biografischer Abriß: Fritz Geißler
1921 am 16. September in Wurzen geboren
1936-39 Lehre am Staatlichen Musikinstitut Naunhof bei Leipzig
1939-40 Privatunterricht; Musiker in Tanzkapellen
1940-45 Militärdienst
1945-48 Kriegsgefangenschaft
1948-50 Studium an der HfM Leipzig bei Max Dehnert und Wilhelm Weismann
1950-51 Bratschist im Landessinfonieorchester Thüringen (Gotha)
1951-53 Kompositionsstudium in Berlin-Charlottenburg bei Boris Blacher, Friedrich Noetel und Hermann Wunsch
1954-58 Lehrauftrag für Musiktheorie an der Karl-Marx-Universität Leipzig
1959-1964 Lektor für Musiktheorie
1965-70 Dozent für Komposition an der Hochschule für Musik Leipzig
1970-74 freischaffender Komponist und Lehrauftrag in Dresden
1972 Mitglied der Akademie der Künste der DDR
1974-78 Professur für Komposition an der HfM Leipzig
1980 Umzug nach Bad Saarow
am 11. Januar 1984 in Bad Saarow verstorben
Auszeichnungen:
Kunstpreis der Stadt Leipzig (1960)
Kunstpreis der DDR (1963)
Nationalpreis der DDR (1970)
Kurzüberblick Werkverzeichnis Fritz Geißler
Bühnenwerke
– u.a. die Ballette „Pigment“ (1960), „Der Doppelgänger“ (1969); die Opern „Der zerbrochene Krug“ (1968)/69), „Der Schatten“ (1973/74)
Vokalsinfonische und Chor-Werke
– u.a. die Oratorien „Gesang vom Menschen“ (1968), „Schöpfer Mensch“ (1971), „Hoffnung auf hellere Himmel“ (1983), die Kantaten „Die Glocke von Buchenwald“ (1974/75), die Motette „Nichts ist schöner als des Menschen Herz“ (1964), die Liebeslieder für gemischten Chor „Das bist du mir“ (1961)
Orchesterwerke
– u.a. elf Sinfonien, zwei Kammersinfonien (1954, 1970), drei sinfonische Sätze, Sinfonische Burleske „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ (1961), Ouvertüren, Vorspiele, Suiten
Solokonzerte
– u.a. für Klavier, Violoncello, Violine, Flöte, Orgel, Klarinette
Kammermusik
– u.a. zwei Nonette, zwei Bläserquintette, drei Streichquartette, Sonaten, Sonatinen
Klavier- und Orgelwerke
Vokalmusik
– u.a. „Hölderlin-Kantate“ (1974), „Nachtelegien“ (1966/67), „Saarower Lieder“ (1982)
Bühnenmusiken
Literatur:
Fritz Geißler: Ziele – Wege. Kommentare, Positionen, Fakten. Ein Komponistenporträt, vorgestellt von Eberhard Kneipel. Verlag Neue Musik Berlin. Leipzig 1987.