Für Wolfgang Stendel gehörte das Komponieren zum Alltag, es war für ihn ein Lebenselixier. Ein umfangreiches Gesamtwerk ist entstanden, es steht zu unserer Verfügung. Wir können diese Musik erklingen lassen und hören, wenn wir wollen. Seine Musik wird uns nicht schockieren oder Aggressionen in uns wecken, sie ist sensibel aber aufgeladen mit leidenschaftlicher Spannung.
Der Komponist war ein Suchender nach neuen Klängen, neuen Rhythmen und neuen musikalischen Formen. Für ihn war es wichtig, die Musik anderer Epochen intensiv zu studieren. Er hat dabei seine Identität als Komponist nicht verloren. Stendel konnte sich befreien von den Eindrücken verschieden gearteter Musik um ihn herum. Er fand über einen langen Entwicklungsweg eine eigene musikalische Sprache.
Wolfgang Stendel verlebte Kindheit und Jugendjahre in Magdeburg, erhielt dort den ersten Klavierunterricht und sang als Jugendlicher im Magdeburger Domchor Mitte der sechziger Jahre studierte er an der Berliner Musikhochschule Komposition. 1974 bekam er das begehrte Mendelssohn-Stipendium.
Der erste Schritt ins Berufsleben war für ihn eine Dozentur für Musiktheorie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1979 erhielt er den Kunstpreis des Bezirkes Magdeburg, ab 1981 war Stendel freiberuflich als Komponist tätig, erst in Magdeburg, danach in Wernigerode. Nach 1989 unternahm er zahlreiche Reisen in viele Länder der Welt, getrieben von der Sehnsucht nach anderen Lebensbereichen. Das Ziel seines Lebens aber war, sein Talent als Komponist zu entwickeln – daß Ideen und Visionen zur klingenden Realität werden können.
Sein Gesamtoeuvre umfaßt nahezu alle musikalischen Genres. In der großen sinfonischen Form (Werke für Orchester) in der Vokalmusik (Werke mit Chor und Orchester oder a cappella), in zahlreichen Kammermusikwerken (Kompositionen für Kammerensemble bis zum Duo), in Kompositionen für Orgel, für Klavier solo, in Lieder mit Klavierbegleitung und in Musik für Jugendorchester – in all diesen Kompositionen entdecken wir eine prononcierte musikalische Sprache.
In den Vokal- bzw. in melodramatischen Werken finden wir philosophische und religiöse Texte unterschiedlicher Provenienz. Diese Werke sind die interessantesten im Gesamtschaffen, weil sie Einblicke gewähren in die geistige Welt des Komponisten.
Die Komposition Credo Ut Intelligam für 16 Solostimmen enthält eine Dynamik, die nach szenischer Realisation verlangt. Desgleichen Laudes für Bariton und Kammerensemble, hier stellt der Komponist der anbetenden Bewunderung des Kosmos (Texte des Franziskus von Assisi und aus Dantes Divina Commedia) eine die Evolution vorantreibende Kraft des menschlichen Geistes gegenüber. Zweifel und Konflikte werden zu Klangereignissen.
Stendel bildet musikalische Formen aus unkonventionellen, autonom aufgestellten Prinzipien, die Klänge, Metren und Tonhöhenverläufe organisieren. Er erweitert diese Gestaltungstechnik in dem Moment, wo Textfragmente hinzutreten. Bestimmte Worte, Silben, Vokale und Konsonanten, also elementare Bestandteile der Sprache werden wie Töne und Klänge zum Material des Komponisten, der Sprachrhythmus wirkt ein auf die musikalische Struktur.
Stendels musikalische Sprache bewegt sich im Spannungsfeld struktureller Vielschichtigkeit und meditativer Reflexion. In verschiedenen Kompositionen verzichtet der Komponist a priori auf das Gestaltungsprinzip europäischer Musik, wo Bewegung und Bewegungslosigkeit in musikalischer Gestalt sich dialektisch gegenüberstehen. Werke wie Consolamentum für Orgel, Zeitsprung – in Kälte und Erstarrung für Sprecher und Kammerensemble oder Scivias – Klang der Worte – Gesänge der Seele für Sopran, Sprecher, Synthesizer und Live Elektronik verlangen eine erhöhte Sensibilität des Hörens von minimalen, sehr langsam sich vollziehenden Klang- und Metrenveränderungen.
Mit unerbittlicher Konsequenz fordert der Komponist diese Sensibilität und Geduld des Hörens. Dafür werden wir belohnt und weggeführt von der zunehmenden Zeitbeschleunigung in unserem Leben.
Wolfgang Stendel dachte nicht an das Überleben seiner Musik in der Zukunft, sondern schuf sie für den aufnahmefähigen Hörer der Gegenwart. Seine Musik ist ein Geschenk und eine Herausforderung zugleich. Nehmen wir beides dankbar an!
Alfred Thomas Müller, 19. Oktober 2022