Fernes Lied ganz nah ist der Titel eines Konzertabends in der Regie des Musikkulturvereins mit Werken mitteldeutscher Komponisten des 20. Jahrhunderts. Selten aufgeführte Lieder und Liederzyklen werden im Oktober gleich an zwei Orten – Halle und Weimar – zur Aufführung gebracht.
Termin in Weimar: Freitag, 18. Oktober 2024, 19 Uhr „Palais Schardt – Goethepavillon“ (Scherfgasse 3, 99423 Weimar – zwischen Goetheplatz und Herderkirche)
Termin in Halle: Freitag, 25. Oktober 2024, 19 Uhr Händelhaus Halle (Kammermusiksaal, Große Nikolaistraße 5)
Das Programm: Johannes Weyrauch (1897-1977) aus: „Erinnerung“ (1920-1928) „Erdengang“ – Nach Dichtungen von Christian Morgenstern (1946)
Wilhelm Weismann (1900-1980) aus: „Das ferne Lied“ (1962) aus: Sechs Lieder für hohe Stimme (1943)
Gerhard Wohlgemuth (1920-2001) aus: „Vier altdeutsche Lieder“ (1937) aus: „Zwölf Lieder für hohe Stimme und Klavier“ (1946)
Interpreten: Patrick Grahl (Tenor) Klara Hornig (Klavier)
Die Lieder und Liederzyklen der drei in ihrer Zeit richtungsweisenden Komponisten aus dem Halle-Leipziger Raum stammen aus den zwanziger bis sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie zeigen das Ringen um eine zeitgemäße Tonsprache, die zugleich auf Tuchfühlung zum überlieferten deutschen Liedgut bleibt. Einfachheit, Sangbarkeit und Vielstimmigkeit entfalten in der Form hoher kompositorischer Komplexität eine Ausdruckskraft, die von ihrer Wirkung bis heute nichts eingebüßt hat.
Freuen Sie sich auf einen außergewöhnlichen musikalischen Abend mit den Interpreten Patrick Grahl und Klara Hornig!
Von links nach rechts: Gerhard Wohlgemuth – Wilhelm Weismann – Johannes Weyrauch
Eine Veranstaltung des Musikkulturvereins Mitteldeutschland e.V., gefördert von der Stadt Halle, Abteilung Kultur. Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Händel-Haus und in Zusammenarbeit mit dem Palais Schardt – Goethepavillon Weimar.
Von Kurt Schwitters (1887-1948) gingen entscheidende Impulse für die Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert aus. Der Hallesche Komponist A. Thomas Müller hat Schwitters‘ bekanntes Laut- und Silbengedicht „Ursonate“ zum Anlass einer künstlerischen Auseinandersetzung genommen. Seine Komposition ‚La Lingua del’Ursonate‘ vereint Töne von Schlaginstrumenten mit Vokalklängen. Gemeinsam mit dem Duo Ina Kancheva (Gesang) und Vassilena Serafimova (Percussion) ist daraus eine szenisch-pantomimisch Interpretation gelungen.
Das Konzert La Lingua – nach der Ursonate von Kurt Schwittersist am 31. Mai, 20.00 Uhr im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale) im Rahmen des Festivals KlangART Vision für Zeitgenössische Musik zu erleben.
Zum Programm:
La Lingua – nach der Ursonate von Kurt Schwitters
Laurent Delforge (*1982) – Interlude
Thierry de May (*1956) – Silence Must Be
Arnold Schoenberg (1874-1951) – Op. 2 Erwartung, Wakdsonne
Samuel Barber (1910-1981) – Solitary Hotel
Laurent Delforge – Interlude
Thomas Müller (*1939) – La lingua del Ursonate
Javier Alverez (1956-2023) – Temazcal (for electronics et maracas)
Pünktlich zu seinem 125. Geburtstag und an seinem Geburtsort – Hanns Eisler wurde am 6. Juli 1898 in Leipzig geboren – bot die Hanns Eisler-Gesellschaft mit den Eisler-Tagen ein reichhaltiges Jubiläumsprogramm.
Musikalische Leckerbissen waren unter anderem die zwei Konzertabende im jeweils gut gefüllten Mendelssohn-Saal: Am 6. Juli der Klavierabend mit Werken Eislers und seiner Schüler und Lehrer (am Klavier: Steffen Schleiermacher). Und einen Tag später, nach einem Vortrag zu Eislers Liedschaffen, der fabelhafte Liederabend, den Tenor Patrick Grahl zusammen mit seiner Begleiterin am Klavier, Klara Hornig, auf das Niveau sachlich kluger ebenso wie feinfühlig-empathisch moderierter Darstellungskunst zu heben wusste. Neben Eisler-Liedern waren, was für eine Seltenheit!, noch kaum gehörte Schätze des Kunstlieds aus der Zeit der DDR zu hören – Kompositionen von Johannes Weyrauch, Wilhelm Weismann und Rudolf Wagner-Régeny.
Um die immer wieder wie aus den Nebenräumen dieser Zeit frisch auftauchende Musik Hanns Eislers herum gruppierten sich zwischen 6. und 11. Juli vielfältige Programme. Eine Ausstellung zum Komponisten Hanns Eisler wurde eröffnet, die Eisler-Gesamtausgabe als Projekt vorgestellt und wissenschaftlich wie ästhetisch Neues zu Eislers unvertontem „Faustus“-Fragment vorgestellt.
Zum Glück gehören die drei lebhaften Leipziger Eisler-Gedenktage 2023 nicht einfach nur der Vergangenheit an. Die am 6. Juli eröffnete Ausstellung „Anmut sparet nicht noch Mühe“ zum Komponisten Hanns Eisler ist bis zum 15.10. im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig zu erkunden. Thematische Sonderführungen gibt es für die thematisch besonders Interessierten, siehe Termine.
Zu ihrem zweiten Solokonzertabend in Halle mit dem Titel „mein mit Schnee gefüllter Mund“ hatte die Akkordeonistin Susanne Stock (Leipzig) ihre Adaption von Schuberts spätem Liederzyklus Die Winterreise op. 89 mitgebracht. Die gut dreißig Gäste im passenden Ambiente des Spiegelsaals im Puschkinhaus waren der Einladung des ausrichtenden Musikkulturverein Mitteldeutschland gefolgt und durften eine kongeniale Interpretation des romantischen Liedklassikers in der Fassung für das Melodiebass-Akkordeon erleben – bewegend, überraschend, innovativ.
Schuberts Textur war in Stocks Zugang nicht willkürlich modernistisch überformt, ihre zeitgemäße Tonsprache namentlich in der linken Hand blieb dem Original verpflichtet. So konnte ihr höchst kunstvolles Spiel auf dem Einzelbassmanual der Komposition immer wieder neuartige Fügungen entlocken. Kantilenenartige Stimmen wurden aufgebrochen, Vertrautes begegnete Ungehörtem. Auch Komponist Thomas Müller hatte das Stück so noch nicht gehört und zeigte sich beeindruckt von der Präzision, mit der durch die Einzeltongestaltung im Bass melodiöse Konturen herausgearbeitet wurden. „Und nun wissen wir auch, weshalb die ‚Winterreise‘ nicht zwingend den tragenden Gesang benötigt in Susanne Stocks Spiel“, hielt Vereinsvorsitzender Ernst Stöckmann nach dem Konzert fest: „Sie bringt das Instrument zum Singen.“
Stock selbst hatte ihre Adaption so angekündigt: „Ein weltbekanntes, tausendfach gehörtes Stück Musik neu hören. Kein Gesang, nur ein einzelnes Akkordeon. Nicht die bekannten Worte Wilhelm Müllers, sondern neue moderne Interpretationen. Nicht gesungen, sondern rezitiert.“ Die Rezitation der dem Opus neu unterlegten Texte von Ruvi Simmons hatte die Künstlerin zwischen den Spielpassagen selbst übernommen; ein zusätzlicher Aufwand, den sie mit Ruhe und Rhythmusgefühl für Pausen und Übergänge gekonnt meisterte. Die poetischen Miniaturen selbst fügten sich – der tragischen Wucht der musikalischen Aussage angemessen – mehr konturscharf denn lyrisch ausmalend in die sanfte, doch bestimmte Aufbruchsbewegung des Gesamtkunstwerks hin zu einem durchaus neuen Gebilde: sich darbietend für ein anderes Hörverstehen und Wiederannähern an dieses großartige Opus. Behutsam modernisierte Formensprache und klassischer Gehalt fanden gelungen zueinander. Mehr lässt sich für einen Konzertabend dieses Zuschnitts kaum verlangen und ja: Schubert hätte an dieser Transformation und Weiterführung wohl seine Freude gehabt.
Einen Sprecher hat die „Winterreise“ der Akkordeonistin aktuell zwar noch nicht, doch dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, dass auch von diesem Aspekt her dem weiteren Bühnen- und (hoffentlich) Hörerfolg des innovativen Werkes auf Tonträgern die Wege geebnet sind. Der Musikkulturverein wird jedenfalls Angebote unterstützen zu weiteren Aufführungen im mitteldeutschen Raum; entsprechende Interessenten sind gebeten, sich beim Vorstand zu melden.
Für Wolfgang Stendel gehörte das Komponieren zum Alltag, es war für ihn ein Lebenselixier. Ein umfangreiches Gesamtwerk ist entstanden, es steht zu unserer Verfügung. Wir können diese Musik erklingen lassen und hören, wenn wir wollen. Seine Musik wird uns nicht schockieren oder Aggressionen in uns wecken, sie ist sensibel aber aufgeladen mit leidenschaftlicher Spannung.
Der Komponist war ein Suchender nach neuen Klängen, neuen Rhythmen und neuen musikalischen Formen. Für ihn war es wichtig, die Musik anderer Epochen intensiv zu studieren. Er hat dabei seine Identität als Komponist nicht verloren. Stendel konnte sich befreien von den Eindrücken verschieden gearteter Musik um ihn herum. Er fand über einen langen Entwicklungsweg eine eigene musikalische Sprache.
Wolfgang Stendel verlebte Kindheit und Jugendjahre in Magdeburg, erhielt dort den ersten Klavierunterricht und sang als Jugendlicher im Magdeburger Domchor Mitte der sechziger Jahre studierte er an der Berliner Musikhochschule Komposition. 1974 bekam er das begehrte Mendelssohn-Stipendium.
Der erste Schritt ins Berufsleben war für ihn eine Dozentur für Musiktheorie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1979 erhielt er den Kunstpreis des Bezirkes Magdeburg, ab 1981 war Stendel freiberuflich als Komponist tätig, erst in Magdeburg, danach in Wernigerode. Nach 1989 unternahm er zahlreiche Reisen in viele Länder der Welt, getrieben von der Sehnsucht nach anderen Lebensbereichen. Das Ziel seines Lebens aber war, sein Talent als Komponist zu entwickeln – daß Ideen und Visionen zur klingenden Realität werden können.
Sein Gesamtoeuvre umfaßt nahezu alle musikalischen Genres. In der großen sinfonischen Form (Werke für Orchester) in der Vokalmusik (Werke mit Chor und Orchester oder a cappella), in zahlreichen Kammermusikwerken (Kompositionen für Kammerensemble bis zum Duo), in Kompositionen für Orgel, für Klavier solo, in Lieder mit Klavierbegleitung und in Musik für Jugendorchester – in all diesen Kompositionen entdecken wir eine prononcierte musikalische Sprache.
In den Vokal- bzw. in melodramatischen Werken finden wir philosophische und religiöse Texte unterschiedlicher Provenienz. Diese Werke sind die interessantesten im Gesamtschaffen, weil sie Einblicke gewähren in die geistige Welt des Komponisten.
Die Komposition Credo Ut Intelligam für 16 Solostimmen enthält eine Dynamik, die nach szenischer Realisation verlangt. Desgleichen Laudes für Bariton und Kammerensemble, hier stellt der Komponist der anbetenden Bewunderung des Kosmos (Texte des Franziskus von Assisi und aus Dantes Divina Commedia) eine die Evolution vorantreibende Kraft des menschlichen Geistes gegenüber. Zweifel und Konflikte werden zu Klangereignissen.
Stendel bildet musikalische Formen aus unkonventionellen, autonom aufgestellten Prinzipien, die Klänge, Metren und Tonhöhenverläufe organisieren. Er erweitert diese Gestaltungstechnik in dem Moment, wo Textfragmente hinzutreten. Bestimmte Worte, Silben, Vokale und Konsonanten, also elementare Bestandteile der Sprache werden wie Töne und Klänge zum Material des Komponisten, der Sprachrhythmus wirkt ein auf die musikalische Struktur.
Stendels musikalische Sprache bewegt sich im Spannungsfeld struktureller Vielschichtigkeit und meditativer Reflexion. In verschiedenen Kompositionen verzichtet der Komponist a priori auf das Gestaltungsprinzip europäischer Musik, wo Bewegung und Bewegungslosigkeit in musikalischer Gestalt sich dialektisch gegenüberstehen. Werke wie Consolamentum für Orgel, Zeitsprung – in Kälte und Erstarrung für Sprecher und Kammerensemble oder Scivias – Klang der Worte – Gesänge der Seele für Sopran, Sprecher, Synthesizer und Live Elektronik verlangen eine erhöhte Sensibilität des Hörens von minimalen, sehr langsam sich vollziehenden Klang- und Metrenveränderungen.
Mit unerbittlicher Konsequenz fordert der Komponist diese Sensibilität und Geduld des Hörens. Dafür werden wir belohnt und weggeführt von der zunehmenden Zeitbeschleunigung in unserem Leben.
Wolfgang Stendel dachte nicht an das Überleben seiner Musik in der Zukunft, sondern schuf sie für den aufnahmefähigen Hörer der Gegenwart. Seine Musik ist ein Geschenk und eine Herausforderung zugleich. Nehmen wir beides dankbar an!
Ein besonderer Abend ist Geschichte: Am 7. Oktober führte der Musikkulturverein das Komponistenporträt von und mit Alfred Thomas Müller im musikwissenschaftlichen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durch. Unterstützt wurde der Abend von Prof. Jochen Köhler.
AlfredThomas Müller, Jg. 1939, gebürtiger Leipziger und seit Jahrzehnten einer der wichtigsten ‚Neutöner‘ der Halleschen Szene für zeitgenössische Musik, ist einer der wenigen noch aktiven zeitgenössischen Musikschaffenden der zweiten Komponistengeneration der DDR-Avantgarde.
Müller ist ausgebildeter Pianist, Wohlgemuth-Schüler, Dirigent. Er gehörte zu den Mit-Debattanten um den musikalischen Avantgardismus in den 60er und 70er Jahren. Von 1989-2004 leitete er das in Sachen Neue Musik verdienstvolle „Ensemble Konfrontation“ Halle und verantwortete die weit über die Grenzen der Saalestadt bekannte Konzertreihe NEUE MUSIK beim Philharmonischen Staatsorchester Halle. Bis heute ist Müller als freischaffender Komponist tätig. Zum Portrait-Konzert erklangen zwei Uraufführungen (Kompositionen 2020, 2022).
Der im Jahr 2018 ins Leben gerufene Musikkulturverein Mitteldeutschland ist eine Vereinigung von Musikliebhabern, Musikern und Komponisten. Zunehmend ist der Schwerpunkt Kompositionen aus dem Osten Deutschlands und der DDR auf überregionales Interesse in der ganzen Republik gestoßen. Für unsere Arbeit an der Sensibilisierung, am Sichtbar- und Hörbarmachen zu Unrecht vergessener oder aus dem Konzertbetrieb ausgeblendeter Kompositionen ostdeutscher Komponistinnen und Komponisten suchen wir noch Unterstützung bei der Recherche- und Redaktionsarbeit. Melden Sie sich gerne bei Interesse über unseren Kontakt. Redaktion und Vorstand des MUK
In Halle gab es pünktlich im Vorfeld des Komponistengeburtstags am 16. September 2021 eine Feierstunde als Komponistenporträt mit Familienangehörigen Fritz Geißlers. Der Mitschnitt der Feierstunde ist hier bereitgestellt. Zusammen mit der in Dresden beheimateten „Fritz Geißler-Gesellschaft“ bündelte der Musikkulturverein Mitteldeutschland im Jubiläumsjahr 2021 Kapazitäten für eine gemeinsame Würdigung des großen Komponisten – getreu dem Motto Modernes freisetzen – Vergessenes erschließen! Doch damit kein Ende der Würdigung! In der Dresdener SLUB ist im Frühjahr 2022 eine Aufführung von Streichquartetten Geißlers geplant (Details folgen). Verbunden mit diesen Würdigungen und Nach-Wirkungen ist die Hoffnung, dass sich hoffentlich viele, die heute mit Fritz Geißler noch wenig verbinden, zur Neu- und Wiederentdeckung großer, universeller Kompositionskunst eingeladen fühlen.
»Bei dem Neuen, das musikalische Gestalt annehmen soll, [geht es] niemals in erster Linie um unerhörte oder noch nicht gehörte Tonverbindungen und Klangeffekte […], sondern um neue Problemstellungen und neue Lösungen, die, im Material der Musik, Modell sein können für die Lösung dialektischer Widersprüche, in ihrer Abstraktheit anwendbar auf möglichst viele Bereiche menschlicher Tätigkeit und menschlicher Selbstverwirklichung. […] Ein produktives Verhältnis zur Musik als Kunst wird der Hörer nur finden können, wenn er durch die äußere Klangfassade, die ihm bei neuen Werkenungewohnt sein kann, zu den wirklichen Problemen, Widersprüchen und Lösungen vorstößt und diese in sich selbst reproduziert. Nur wenn der Hörer willens und in der Lage ist, sich dieser schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk zu stellen, kann Kunst überhaupt wirksam werden.«
Fritz Geißler: Überlegungen zu Wesen und Aktualität der Gattung Sinfonie, Interviewbeitrag 15.9.1970, in: Fritz Geißler: Ziele. Wege. Komponistenporträt von E. Kneipel. Berlin 1987, S. 153.
„Haben Sie schon mal was von Fritz Geißler gehört?“ „Fritz Geißler … wer ist das?“ „Na wir meinten eher eine seiner Opern oder Sinfonien…“ „Ach so, nein, also weder noch.“ Vermutlich würde so oder ähnlich die Antwort ausfallen, stellte man heute die Frage nach Fritz Geißler in den Raum, der als einer der bedeutendsten Tonschöpfer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Mitte Deutschlands gelten darf – und muss.
Fritz Geißler wurde am 16. September 1921 im sächsischen Wurzen geboren, er starb am 11. Januar 1984 in Bad Saarow. Berufung wie berufliches Wirken erfüllten sich für Geißler in einer drei Jahrzehnte währenden Entwicklung als freischaffender Komponist ebenso wie als Dozent und Professor für Komposition an den Musikhochschulen in Leipzig und Dresden. Nicht weniger als 140 Werke in einer Vielzahl musikalischer Gattungen umfasst sein kompositorischer Nachlass, darunter: ganze elf (!) Sinfonien, vielzählige Instrumentalkonzerte, Kammermusik, Ballette, Kantaten, Oratorien und nicht zu vergessen vier abendfüllende Opern (Der Zerbrochene Krug, Der Schatten, Der verrückte Jourdain und Das Chagrinleder). Renommierte Klangkörper wie die Staatskapelle Dresden oder das Gewandhausorchester Leipzig, bedeutende Dirigenten wie Kurt Masur, Herbert Kegel und Václav Neumann interpretierten seine Sinfonien und vokalsinfonischen Werke; Häuser und Bühnen in Ost- wie Westdeutschland führten seine Werke in reicher Zahl auf. Weil Geißler seinen ästhetischen Avantgardismus lange Zeit radikal verstand, etwa mit seiner 2. Sinfonie (1963) die erste ostdeutsche Sinfonie unter Anverwandlung des Serialismus (der zu dieser Zeit vielumstrittenen Zwölftontechnik der Schönberg-Schule) schuf, war sein in der DDR hochgeschätztes sinfonisches Schaffen durchaus heftig diskutiert. Als Neuerer der Sinfonie als einer Kunstgattung, in der Individuelles und Gesellschaftliches zur ernsten modellhaften Aussprache kommen sollten, verstand er sich, das sinfonische Kunstwerk galt ihm nach eigenen Worten als „Modell für das mögliche Maß menschlicher Selbstverwirklichung in einer bestimmten Geschichtsepoche„. Geißler fühlte sich als suchender Tonschöpfer dem avantgardistischen Ausdruck seiner Zeit ebenso wie dem Gedanken verpflichtet, „die Kluft zwischen zeitgenössischer Musik und Publikum zu überbrücken“ (1979). Dieser ihm bewusste Spannungsgegensatz führte ihn im späteren Werk zum – bei Zeitgenossen wie späteren Kritikern nicht unumstrittenen – Versuch einer ’neuen Einfachheit‘. Am Ende ging es um Vereinigung: „Ich sehe die Möglichkeit einer fruchtbaren Weiterentwicklung der musikalischen Sprache weder in einem epigonenhaften Wiederholen überlieferter Ausdrucks- und Gestaltungsmittel noch in einem schroffen Bruch mit der Tradition, sondern in einer echten Synthese von Überliefertem und Neuem.“ (1979) Verlieren sich mit dem Ende des sozialistischen deutschen Staats wirkungsgeschichtlich weitgehend die Spuren, bleibt eine Frage unabweisbar: Wie kann ein solch vielgestaltiges, ebenso modernes wie uneingeholt zeitloses, schon im Umfang monumentales – wenn man so will unübersehbares – Oeuvre im heutigen Konzert- und Kulturbetrieb so gut wie unbekannt, ja vergessen sein?
Für eine erste Annäherung an Fritz Geißlers eindrucksvolles kompositorisches Werk, dem die zeitgenössische Kritik zurecht das „Streben nach dichter und expressiver sowie sinnenkräftiger und logisch gegliederter Klangsprache“ bescheinigte [Brockhaus/Niemann: Musikgeschichte der DDR, 1979, S. 277], seien die Werkübersicht und die Diskographie Geißlers der Geißler-Gesellschaft empfohlen.
Hörbeispiele bedeutender historischer Aufnahmen zwischen Früh- und Spätwerk (Sinfonien 1-3, 5-7, 11, Chorsinfonik und Instrumentalstücke) bietet der Videokanal youtube ebenso wie das eine oder andere Kleinod, etwa die frühen Sieben Klavierstücke für Charlotte (1956). Wohl besonders geeignet für den prägnanten Einstieg in die Kompositionswelt Geißlers ist neben der 5. Sinfonie, 1969 im Auftrag der Dresdner Philharmonie komponiert, 1970 mit dem Nationalpreis der DDR gewürdigt, die Italienische Lustspielouvertüre nach Rossini, ein „spritziges, quicklebendiges und übermütiges Werk, eine virtuose Aufgabe fürs Orchester, ein Spaß für den Hörer.“ (H. Schaefer).
Für Schallplattenliebhaber hält die NOVA-Sammlung, das einschlägige Label in der DDR für die ernste Musik des Landes, insgesamt 11 Titel mit Werken Geißlers bereit. Darunter: Historische Aufnahmen der 2. und 3., 5.-7. Sinfonie, Der zerbrochene Krug, Schöpfer Mensch, Die Flamme von Mansfeld, Kammersinfonie, Sonate für Horn und Klavier, Konzertante Fantasie für Kammerorchester. Auf ETERNA erschien zudem (Mono) die zeitgenössisch vielgespielte Italienische Lustspielouvertüre nach Rossini (1956).
Biografischer Abriß: Fritz Geißler 1921 am 16. September in Wurzen geboren 1936-39 Lehre am Staatlichen Musikinstitut Naunhof bei Leipzig 1939-40 Privatunterricht; Musiker in Tanzkapellen 1940-45 Militärdienst 1945-48 Kriegsgefangenschaft 1948-50 Studium an der HfM Leipzig bei Max Dehnert und Wilhelm Weismann 1950-51 Bratschist im Landessinfonieorchester Thüringen (Gotha) 1951-53 Kompositionsstudium in Berlin-Charlottenburg bei Boris Blacher, Friedrich Noetel und Hermann Wunsch 1954-58 Lehrauftrag für Musiktheorie an der Karl-Marx-Universität Leipzig 1959-1964 Lektor für Musiktheorie 1965-70 Dozent für Komposition an der Hochschule für Musik Leipzig 1970-74 freischaffender Komponist und Lehrauftrag in Dresden 1972 Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-78 Professur für Komposition an der HfM Leipzig 1980 Umzug nach Bad Saarow am 11. Januar 1984 in Bad Saarow verstorben Auszeichnungen: Kunstpreis der Stadt Leipzig (1960) Kunstpreis der DDR (1963) Nationalpreis der DDR (1970)
Kurzüberblick Werkverzeichnis Fritz Geißler Bühnenwerke – u.a. die Ballette „Pigment“ (1960), „Der Doppelgänger“ (1969); die Opern „Der zerbrochene Krug“ (1968)/69), „Der Schatten“ (1973/74) Vokalsinfonische und Chor-Werke – u.a. die Oratorien „Gesang vom Menschen“ (1968), „Schöpfer Mensch“ (1971), „Hoffnung auf hellere Himmel“ (1983), die Kantaten „Die Glocke von Buchenwald“ (1974/75), die Motette „Nichts ist schöner als des Menschen Herz“ (1964), die Liebeslieder für gemischten Chor „Das bist du mir“ (1961) Orchesterwerke – u.a. elf Sinfonien, zwei Kammersinfonien (1954, 1970), drei sinfonische Sätze, Sinfonische Burleske „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ (1961), Ouvertüren, Vorspiele, Suiten Solokonzerte – u.a. für Klavier, Violoncello, Violine, Flöte, Orgel, Klarinette Kammermusik – u.a. zwei Nonette, zwei Bläserquintette, drei Streichquartette, Sonaten, Sonatinen Klavier- und Orgelwerke Vokalmusik – u.a. „Hölderlin-Kantate“ (1974), „Nachtelegien“ (1966/67), „Saarower Lieder“ (1982) Bühnenmusiken
Literatur: Fritz Geißler: Ziele – Wege. Kommentare, Positionen, Fakten. Ein Komponistenporträt, vorgestellt von Eberhard Kneipel. Verlag Neue Musik Berlin. Leipzig 1987.
Kaum zu glauben, aber wahr: Gersters Oper „Enoch Arden oder der Möwenschrei“, 1936 uraufgeführt, bald darauf eine der am häufigsten aufgeführten zeitgenössischen Opern und heute nahezu vergessen, wird am Wiener Opernhaus Theater an der Wienab 17. Mai aufgeführt (Vorstellungen bis zum 11. Juni).
Etwa zweieinhalb Stunden dauert die vieraktige Oper Gersters, basierend auf der gleichnamigen dramatischen Ballade des englischen Dichters Alfred Tennyson, die 1864 veröffentlicht wurde und unter anderem Richard Strauss zu einem Melodram anregte. Die Handlung: Nach einem Unfall verlässt der ehemalige Fischer Enoch Arden seine Frau Annie und die drei gemeinsamen Kinder, um in der Handelssschifffahrt seine Familie zu ernähren. Dabei erleidet er Schiffbruch und strandet mit zwei Gefährten auf einer verlassenen Insel. Die beiden anderen sterben. Erst nach zehn Jahren kehrt Arden zurück. Seine Frau, die ihn für tot hielt, hat inzwischen ein Kind von seinem alten Freund Philip, den sie auch geheiratet hat. Enoch beschließt, sich weder seiner Frau noch seinen Kindern zu offenbaren und stirbt an gebrochenem Herzen.
Ottmar Gersters Enoch Arden wurde von mehr als fünfzig Bühnen nachgespielt – nicht nur im deutschsprachigem Raum (etwa 1940 in Linz und 1942 in Graz), sondern auch in Finnland, Rumänien und Italien. Nach 1945 erlebte die Heimkehrer-Tragödie insbesondere in der DDR, wo auch eine Gesamteinspielung auf LP veröffentlicht wurde, erneut eine Renaissance, weil der Stoff die Menschen persönlich berührte, ehe sie in den 1960er Jahren auch dort in Vergessenheit geriet. Enoch Arden zählt die Kritik zu dem „wohl letzten Beispiel veristischer Opernkultur, das stilistisch zwischen d’Alberts Tiefland und Hindemiths Mathis der Maler einzuordnen wäre.“ Tänze und Lieder von einprägsamer Melodik stehen neben Fugen und herber Polyphonie. Auch musikalisch nicht vorgebildete Menschen mit seiner Musik zu erreichen, war Zeit seines Lebens die oberste Maxime Gersters. Wie sein Freund und Kollege Paul Hindemith in den 1920er Jahren unter anderem als Leiter von Arbeiterchören musikalisch sozialisiert, konnte sich Ottmar Gerster später auch mit den ästhetischen und politischen Linien, die die nationalsozialistische Kulturpolitik leiteten, identifizieren. Vergleichbar war das in der DDR der Fall, in die der Komponist 1947 übersiedelte. Zusammen mit den Opernwerken Rudolf Wagner-Régenys galt Gersters Enoch Arden zusammen mit seiner Die Hexe von Passau als eines der vorbildlichen Referenzwerke der jungen Opernkomponisten der DDR. Gerster, Professor an der Leipziger Musikhochschule langjähriger Vorsitzender des Verbandes Deutscher Komponisten, erhielt in dem Land seiner Wahl zahlreiche Auszeichnungen für sein Lebenswerk. Es unter den oberflächlichen Urteilen insbesondere der jüngeren Vergangenheit wieder zu entdecken, dürfte ausgesprochen lohnenswert sein. Dass das Wiener Opernhaus jetzt diese Möglichkeit bietet, darf man einen Glücksfall nennen.
„So hat sich Dittrich in wahrhaft Goetheschem Sinne entwickelt: Von außen angeregt, aber von innen heraus entfaltet. Hier setzt einer nicht selbstherrlich seine Imaginationen ins Werk, sondern hört zu, wägt ab, prüft und findet dann Töne von einer Verbindlichkeit, Schönheit und stilistischen Strenge, die heute ihresgleichen sucht.“ Mit diesen Worten erfasste ein Rezensent zu Paul-Heinz Dittrichs 80. Geburtstag die Eigenart des Komponierens dieses Avantgarden aus der DDR, der zeitlebens nicht nur mit den unterschiedlichen Systemen des Komponierens rang für den höchsten künstlerischen Ausdruck, sondern als Komponist und Mensch auch zwischen den Systemen der beiden getrennten deutschen Staaten seinen Weg finden musste.
Ein Blick auf seine biographische Entwicklung, wie er sie auf seiner eigenen Internetseite rekapitulierte: Geboren wurde Dittrich am 4.12. 1930 im erzgebirgischen Gornsdorf. Er studierte von 1951 bis 1956 an der Musikhochschule in Leipzig und von 1958 bis 1960 als Meisterschüler von Rudolf Wagner-Régeny an der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin. Von 1960 bis 1976 unterrichtete er an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Tonsatz, Gehörbildung Kontrapunkt und Formenlehre. Nach 1976 bis 1990 war er als freischaffender Komponist tätig. 1978 wurde er Professor für Komposition und wirkte als Gastprofessor in Freiburg/Breisgau, Los Angeles, Paris und Köln. Von 1983 bis 1991 bildete er Meisterschüler an der Akademie der Künste in Berlin aus. In den Jahren 1981 und 1987 war Dittrich „scholar in residence“ der Rockefeller-Foundation in Bellagio/Italien.
Von 1990 bis 2002 war Dittrich Professor für Komposition an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. In diesem Zeitraum wirkte er auch als Gastprofessor an der Daegu Universität/Südkorea, an der Samuel Rubin Academy in Tel Aviv und an der Hebrew-University in Jerusalem/Israel, sowie auch in St. Petersburg und Moskau.
Dittrich arbeitete in verschiedenen Elektronischen Studios: in der Schweiz, in Warschau, in Köln und am Pariser IRCAM. 1991 gründete Dittrich das Brandenburgische Colloquium für Neue Musik und wirkte als dessen künstlerischer Leiter bis 2000. Paul-Heinz Dittrich war Mitglied der Akademie der Künste Berlin sowie der Sächsischen Akademie der Künste Dresden.
Dittrichs kompositorisches Werk ist ausgesprochen vielschichtig, es überwiegen Kompositionen für Kammermusik, ein lebenslanger Schwerpunkt ist das Einbringen der elektronischen Musik. Seine eigene Internetseite bietet ein Potpourri an Hörbeispielen, angefangen von der Kammermusik III für Bläserquintett (1974) bis zur späten Komposition „Glücklose Engel“ (Heiner Müller) für Sopran und Kammerorchster (1997).
Sein ästhetisches Engagment für neue Musik hat der DDR-Komponist Dittrich, der zeitlebens Johann Sebastian Bach als „das große Vorbild“ ansah (Interview mit Ursula Stürzbecher, 1979), einmal so zusammengefaßt: „Gesellschaftliche Spiegelungen, so wie ich sie verstehe, bleibe niemals im Detail stecken; es sind allgemeine Phänomene einer Zeit, die über alle Grenzen hinweg wichtig sind, die nur nur von DDR-Bürgern verstanden, sondern von der Menschheit unserer Zeit allgemein aufgenommen werden können.“ (ebd.)
Am 28.12.2020 ist Paul-Heinz Dittrich im Alter von 90 Jahren gestorben.
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